"Für das Interesse der Gesammtheit"1900: Die Handwerkskammer wird gegründet
Eine machtvolle Vertretung handwerklicher Interessen schien im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts dringend geboten. Sah sich doch das Handwerk am Ausgang jenes Jahrhunderts in bedrohlicher Lage. Schon zu Jahrhundertbeginn, mit Aufhebung der Zünfte und der zunehmenden Einführung der Gewerbefreiheit, hatten sich die Existenzbedingungen des Handwerks grundlegend verändert.
Der Zustand einer "geregelten Marktwirtschaft", den die Zünfte gleichsam garantiert hatten, war vorüber. In den Augen vieler Handwerker war damit die massenhafte Zunahme selbständiger Existenzen und, in direkter Folge, die Verelendung des Handwerks gegeben.
Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Industrialisierung tat dann ihr Übriges, um die wirtschaftliche Grundlage des Handwerks weiter zu erschüttern. Für den bekannten Nationalökonomen Werner Sombart war das Handwerk in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts von der kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft voll erfasst worden. "Das" Handwerk, das sich den Bedingungen des Kapitalismus nicht anpasste, sich dessen Gewinnorientierung verweigerte, würde untergehen! Gefordert seien Flexibilität und Lernfähigkeit.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten schon etliche Gewerke begonnen, auf die maschinell erzeugten, ebenso massenhaft wie unnachahmlich billig daherkommenden Konkurrenzprodukte zu reagieren. So verlegte sich das Bekleidungsgewerbe verstärkt auf Reparaturarbeiten, andere Handwerker, beispielsweise die Modisten, eröffneten einen kleinen Laden, mutierten zum Produzenten und Händler in einer Person. Im Kunsthandwerk sah mancher plötzlich eine begehrte Nische, die ein Überleben versprach.
Die Überzeugung wuchs im Handwerk, dass man sich organisieren müsse. Entsprechende Ansätze hatte es in vielerlei Gestalt, zumeist auf lokaler oder regionaler Ebene, schon seit den 1860er Jahren gegeben. Erst 1897 jedoch hatten die Handwerksvertreter mit einer maßgeblichen Änderung der Reichsgewerbeordnung, dem sogenannten Handwerkergesetz, den Durchbruch erzielt. Die "große Politik" war zum Ergebnis gekommen, dass sie ihn brauchten, den Handwerker als tragendes Element des Mittelstands. Dessen essentielle "Bindungs"-Funktion sollte gestärkt werden, angesichts der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft in eine Klasse profitgieriger Unternehmer und in eine Masse ausgebeuteter Arbeiter.
Die Novellierung der Reichsgewerbeordnung klärte grundlegende Zuständigkeiten der Handwerksorganisation, darunter die Anordnung beziehungsweise die Erlaubnis, Handwerkskammern zu gründen: "Zur Vertretung der Interessen des Handwerks ihres Bezirkes sind Handwerkskammern zu errichten." In Düsseldorf erschienen letztlich 44 "Mann"; eine Frau als Vertreterin des Handwerks war zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorstellbar. Sie kamen aus allen vier Teilregionen des Regierungsbezirks.
Die Gründungsversammlung im Düsseldorfer Rathaus scheint harmonisch verlaufen zu sein. Nichts deutet auf Auseinandersetzungen hin. Fast einstimmig kürten die Delegierten den Bäckermeister Fritz Hartes aus Krefeld zu ihrem ersten "Vorsitzenden", wie der Präsident damals noch hieß. Neben Hartes wurden zu Vorstandsmitgliedern gewählt: Schlossermeister Jakob Weingarten aus Düsseldorf, Schuhmachermeister Wilhelm Keute aus Essen, Uhrmacher Heinrich Genner aus Duisburg, Malermeister Peter Bernhard aus Barmen, Anstreichermeister Gerhard Mülders aus Mönchengladbach sowie Schlossermeister Vitus Kobel aus Krefeld.
Von einem Gewerbeproporz konnte keine Rede sein. Auch die über 40 Delegierten der Vollversammlung spiegelten nicht die gesamte Breite der Branchengruppe wider; neben Schuhmachern und Schreinern war auch das zahlenmäßig große Schneiderhandwerk stark vertreten. Ein Proporz war allerdings beachtet worden: die Zuordnung nach Regionen. Jedes der Vorstandsmitglieder vertrat eine der damals sechs Teilräume, "Abteilungen" genannt, wie es das "Handwerkergesetz" von 1897 ermöglicht beziehungsweise die Wahlordnung von 1899 bestimmt hatten.
Das eigentliche Ziel jedoch lag eben nicht in der gleichwertigen Repräsentation eines einzelnen Handwerks oder eines bestimmten Gebietes. Der anwesende "Staatskommissar" Erbslöh, der die konstituierende Vollversammlung der Handwerkskammer zu Düsseldorf im Namen des Regierungspräsidenten eröffnet hatte, betonte: "Je mehr sich jedes einzelne Mitglied berufen fühlt als Vertreter des gesammten Handwerkerstandes und, wenn es darauf ankommt, es über sich gewinnt, die einzelnen Wünsche hinter diejenigen der Gesammtheit zurücktreten zu lassen, je mehr Sie sich leiten lassen werden von den Interessen der Gesammtheit, desto mehr werden Ihre Beschlüsse an maßgebender Bedeutung gewinnen."
Von Dr. Werner Mayer